Neues aus dem IDWM

Inklusion und Verdeckung – von der (Un-)Sichtbarkeit von Inklusion und Exklusion

| Veranstaltungsrückblick

Passend zum Thema „Inklusion leben in Kirche und Gesellschaft? Interdisziplinäre Forschungsperspektiven auf Vorder- und Hinterbühne einer ‚inklusiven‘ Diakonie“
fand am 24. November ein Studientag im Haus Groß Bethel statt. In diesem ersten Anstaltsneubau aus dem Jahr 1873 lebten einst Menschen mit Unterstützungsbedarf in einer Sonderwelt (weitere historische Hintergründe hier). Nun diskutierten hier rund 50 Teilnehmende über unterschiedliche Inklusionsverständnisse und ihre damit verbundenen Erfahrungen. Die thematische Auseinandersetzung wurde bereichert von den vielfältigen Perspektiven der Teilnehmenden aus religionspädagogischen und diakoniewissenschaftlichen Studiengängen, unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen und Praxisfeldern.

Inklusion – das Thema ist seit gut 20 Jahren in aller Munde und in der kirchlichen, diakonischen und gesellschaftlichen Praxis ist das Bemühen einer angemessenen Umsetzung vielfältig erkennbar. Aber sind Inklusions- und Exklusionsprozesse tatsächlich so deutlich sichtbar, wie es auf den ersten Blick scheint? Und gibt es nicht insbesondere in Kirche und Diakonie Sonderregelungen und Sonderwelten, die eher exklusiv als inklusiv wirken? Diese Fragen griff der Studientag „Inklusion leben in Kirche und Gesellschaft? Interdisziplinäre Forschungsperspektiven auf Vorder- und Hinterbühne einer ‚inklusiven‘ Diakonie“ auf.

Die Bielefelder Professorinnen Anika Albert (IDWM) und Ulrike Witten (Abteilung Theologie) luden Studierende und Interessierte aus Wissenschaft und Praxis ein, um gemeinsam theoretische Hintergründe und praktische Erfahrungen mit Inklusion und Verdeckung zu reflektieren. Mit dem neu etablierten Format des interdisziplinären Studientages fand die im Juli dieses Jahres gemeinsam gehaltene Antrittsvorlesung der beiden Professorinnen eine inhaltliche Fortsetzung und Bereicherung durch inklusionstheoretische Außenperspektiven auf ein überaus aktuelles und praxisrelevantes Thema.

Die inhaltliche Einführung ließ die Komplexität und Vielschichtigkeit verschiedener Inklusionsverständnisse erkennen. Historische, soziologische und erziehungswissenschaftliche Impulse führten hier zur Verständigung auf einen gemeinsamen Arbeitsbegriff im Sinne eines menschenrechtlich begründeten Engagements für die gleichberechtigte Teilhabe aller in allen gesellschaftlichen Bereichen. Dieser weite Inklusionsbegriff bezieht sich auch – aber eben nicht nur – auf Menschen mit Beeinträchtigungen unterschiedlicher Art, die häufig im Fokus kirchlicher und diakonischer Verlautbarungen und praktischer Umsetzungsbemühungen zum Thema Inklusion stehen.

Als wichtige Erkenntnis stellte sich heraus, dass Inklusion nicht nur Zielperspektive, sondern auch Analyseinstrument ist, das Andersheiten, daraus resultierende Ungleichheiten und Machtverhältnisse zunächst einmal wahrnimmt und offenlegt – und ein Bewusstsein dafür entwickelt, welche Aspekte in einem derartigen Wahrnehmungsprozess zugleich ausgeblendet werden.

In diesem Zusammenhang spielte das Thema „Verdeckung“ eine zentrale Rolle: Was wird an Inklusions- und Exklusionsprozessen überhaupt sichtbar? Was hingegen bleibt bewusst oder unbewusst verdeckt? Prof. Dr. Michaela Vogt und Till Neuhaus M.A. von der Fakultät für Erziehungswissenschaft an der Universität Bielefeld führten auf Basis ihres Forschungsansatzes „Über die Verdeckung: Turning Inclusion Upside Down“ aus inklusionstheoretischer Perspektive in das Thema ein.

Am konkreten Beispiel der Aufarbeitung der gewaltförmigen Konstellation im ‚Alumnat‘ Martinstift in Moers brachten Prof. Dr. Fabian Kessl und Dr. Fruszina Müller von der Fakultät für Human- und Sozialwissenschaften der Bergischen Universität Wuppertal eine historisch und gegenwartsanalytisch informierte Perspektive ein. Ihre Forschungsergebnisse machten deutlich, dass Fragen von Inklusion und Exklusion in diakonischen Einrichtungen sowohl historisch als auch aktuell hochsensible Themen sind. Fragen nach Verantwortung und Schuld liegen nahe und bedürfen der Aufmerksamkeit, einer entsprechenden Rezeption und sowohl der rückblickenden als auch der vorausschauenden Bearbeitung.

Im dritten Impuls stellte Prof. Dr. Anja Hackbarth von der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld methodologische Perspektiven der rekonstruktiven Sozialforschung dar und machte deutlich, inwiefern Inklusion und Exklusion empirisch erforscht werden können. Die hier im Bereich Schule angewendeten Methoden bieten ebenfalls für den Bereich Kirche und Diakonie Anknüpfungsmöglichkeiten für neu zu entwickelnde Forschungsprojekte.

Damian Ostermann M.A., der den Studientag als wissenschaftlicher Mitarbeiter am IDWM mit vorbereitet hatte, schlug nach den Vorträgen jeweils die Brücke zwischen den theoretischen Impulsen und praktischen Umsetzungsmöglichkeiten und motivierte alle Teilnehmenden zum munteren Austausch in Kleingruppen.

Nicht zuletzt spielte in den Diskussionen die Frage nach Anspruch und Wirklichkeit von Inklusion in diakonischen Einrichtungen eine zentrale Rolle. Inwiefern kann Inklusion mehr sein als eine rein normative Setzung? Was spielt sich – in Anknüpfung an die Theorie von Erving Goffman – auf der Vorderbühne ab, und wie sieht die Hinterbühne aus? Welche Verbindungen, Zusammenhänge und wechselseitige Verstärkungen zwischen sichtbar und unsichtbar Gemachtem gibt es? Und wer hat die Macht, Prozesse zu bestimmen und zu kontrollieren – wer sind also die darstellenden Akteur:innen, wer aber die Strippenzieher:innen und Baumeister:innen?

Am Ende des Studientages waren viele Fragen gestellt und diskutiert – und der Vorhang offen für die Fortsetzung im Rahmen des 19. Forums Diakoniewissenschaft zum Thema „Für Inklusion sorgen – ein Paradigmenwechsel?“ am folgenden Tag.

Waren Sie dabei? Gern nehmen wir hier Ihre Rückmeldung zum Studientag entgegen.

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Das Haus Groß Bethel: Einst eher exkludierende Sonderwelt, heute Ort wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit dem Thema Inklusion.
Die Professorinnen Anika Albert vom IDWM und Ulrike Witten aus der Abteilung Theologie (hier beim 19. Forum Diakoniewissenschaft) bereiteten den Studientag vor.
Eingangstür mit historischem Türspruch